Ich bin Autist. Autist_innen bekommen Overloads. Overloads führen zu Meltdowns und/oder zu Shutdowns. Zu Shutdowns schreib ich ein andermal. Jetzt möchte ich mich darauf beschränken, Euch näherzubringen, wie sich ein Meltdown für mich anfühlt.
Außenstehende nehmen meine Meltdowns wahrscheinlich als Wutausbrüche wahr und halten mich deshalb für einen unbeherrschten Choleriker. Die Wahrheit ist jedoch viel schlimmer. Denn ich verbringe die meiste Zeit meines Lebens damit, Overloads und damit auch Meltdowns zu vermeiden, sofern mir das überhaupt möglich ist.
Nein, das ist nicht übertrieben — ich habe tatsächlich mein Leben auf die Verhinderung von Overloads ausgerichtet.
Alles, was Overloads verursachen kann, wird in den Hintergrund gedrängt. Dazu gehört vor allem soziale Interaktion, die ich vermeide, wann immer es geht. Den unfreiwilligen Beruf des Verkäufers habe ich aufgegeben und bin jetzt Kraftfahrer. In der Fahrkabine bin ich alleine, soziale Kontakte beschränken sich darauf, rücksichtslosen Autofahrer_innen den Stinkefinger zu zeigen, Kolleg_innen über Funk vor Abstandskontrollen und Staus zu warnen und auf die wenigen Worte, die man mit Kund_innen beim Abladen wechselt. Freund_innen hab ich so gut wie keine. Die meisten Freundschaften halten der Belastung durch meine Behinderung nicht stand. Kontakt zur Familie wird auf das nötigste reduziert und vor, während und nach unvermeidlichen gesellschaftlichen Ereignissen möglichst lange Erholungsphasen eingeplant bzw. nach räumlichen Flucht- und Ausweichmöglichkeiten Ausschau gehalten.
Ich unternehme größtmögliche Anstrengungen und stehe deshalb während sozialer Interaktion also permanent unter großem seelischen Streß, um nicht viel häufiger Meltdowns zu erleiden. Was ihr seht, ist nur die Spitze des Eisbergs und wie es in mir drin aussieht, wollt Ihr lieber nicht wissen.
Denn, auch wenn sie für Euch so aussehen, Meltdowns sind keine Wutausbrüche. Sie tragen den Namen Kernschmelze nicht ohne Grund. Ihr werdet im ungünstigen Fall von ihnen in Mitleidenschaft gezogen, aber mich zerstören sie mehr und mehr und jedesmal wieder.
Das schlimmste an diesen Meltdowns ist die Dissoziation. Sobald der Overload eintritt, bin ich buchstäblich nicht mehr bei Sinnen. Den eventuell folgenden Meltdown oder Shutdown kann ich dann nicht mehr verhindern, weil ich zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr bewusst handele — was dann abläuft geschieht automatisch, ohne mein Zutun oder die Chance, es zu verhindern/beenden.
Die Amnesie währt meist nur kurz und die Erinnerung an den Meltdown kommt oft schon einige Minuten nach dem Ende des Anfalls wieder und mit ihr der Seelenkater.
Was ich während der Meltdowns angerichtet habe, kann ich oft nicht ohne weiteres verarbeiten und die Schuldgefühle haben mich mehr als einmal in die Suizidalität getrieben. Dabei muß ich mir immer wieder selbst vor Augen halten, daß ich mir diese Behinderung nicht ausgesucht habe und ein Meltdown kein schuldhaftes Verhalten ist; außerdem sind die Meltdowns immer und in jedem Fall Reaktionen auf Reize von außen.
Deshalb versuche ich häufige soziale Kontakte im Allgemeinen und solche zu Familie und Freunden im Speziellen zu vermeiden. Ich habe besonders im familiären Kontext wiederholt die Erfahrung gemacht, daß auf meine Behinderung keine Rücksicht genommen wird. Inzwischen bin ich dazu übergegangen, von meiner Seite aus keinen Kontakt aufzunehmen. Ein anderes Merkmal meiner Behinderung ist nämlich das Fehlen von Empathie[1]Bitte nicht Einfühlungsvermögen (Empathie) mit Mitgefühl verwechseln. Die Tatsache, daß ich Eure Gefühle nicht wahrnehmen kann bedeutet nicht, daß ich nicht mitfühlend oder sogar emotionslos … Continue reading. Ich kann nicht unterscheiden (fühlen), ob ich nur (notgedrungen) geduldet werde oder ob meine Gesellschaft tatsächlich wertgeschätzt wird[2]…weswegen Toleranz nicht ausreicht um Inklusion zu schaffen. Dazu braucht es Akzeptanz.. Wenn ich also darauf warte, ob ihr den Kontakt zu mir sucht, weiß ich wenigstens, daß er auch tatsächlich gewünscht ist. Leider wird das zuweilen auch als fehlendes Interesse meinerseits aufgefaßt und so zerbricht manche Freundschaft aufgrund eines Mißverständnisses.
Dabei ist es nicht so, daß ich die Nähe geliebter Menschen nicht genieße oder benötige. Im Gegenteil bin ich sogar ein ausgesprochener Familienmensch und sehne mich nach Gesellschaft. Und auch Partys machen mir, so ermüdet ich danach auch sein mag, viel Freude, so wie ich Spaß am Bergwandern habe, auch wenn ich hinterher körperlich erschöpft bin.
Die Nähe zu geliebten Menschen hilft mir, seelische Ausgeglichenheit und inneren Frieden zu finden und senkt damit das Risiko von Overloads.
Nun hab ich diesen Text schon seit knapp über einem halben Jahr in den Entwürfen liegen. Jetzt hat mir dieser Blogeintrag von elodiyla fast den Boden unter den Füßen weggerissen (im positiven Sinne), weil die dort beschriebenen Empfindungen so sehr den meinen ähneln. Das war für mich der Anlaß, meinen Post endlich auch ins Internet zu befreien.
Vor längerer Zeit habe mich bereits mittels Cartoonbildchen daran versucht, meine Wahrnehmung von Meltdowns zu erklären. Damals verglich ich Meltdowns mit einer Bombe, deren Explosion kaum noch zu verhindern ist, wenn die Lunte erstmal brennt. Falls die Einbindung des Instagrams in WordPress bei euch genauso zerkratzt ist, wie bei mir (Bilder beschnitten, Texte nicht lesbar), folgt gerne diesem Link.
Fußnoten